Die Gegend in der ich wohne nennt sich Graefekiez und ist seit einigen Jahren eine Art Keimzelle des neuen Berlins das ein Lifestyle sein möchte – eine wahr gewordene „Berliner Pilsner“-Werbung in der 24 Stunden lang die Sonne untergeht und sich die Menschen der Stadt beim Grillen auf deren Dächern lachend in den Armen liegen. Und jeder kann mitspielen. Das Set wird derzeit im Graefekiez errichtet.
Kein Monat vergeht, ohne dass etwas verschwindet und durch eine Requisite ersetzt wird. Zumeist erstaunlich aufgeräumte Läden, die auch mit ihrem vermeintlich wahllos platzierten Stückwerk nicht über die akribische Vorplanung hinwegtäuschen können. Sich mit viel Kohle so einzurichten als hätte man kein Geld gehört zu einem zynischen Trend.
Man braucht nichts – aber nur so lange man es haben kann. Die Abgrenzung erfolgt über den Preis. Ein Bier zum Preis von Zweien ist das Konzept. Man könnte, wenn man wollte – darüber soll Klarheit herrschen und daran soll auch die heimische Einrichtung keinen Zweifel lassen. Die besteht zumeist aus drei Bananenkisten als Kleiderschrank-Ersatz, zwei provisorischen Holzböcken nebst aufgelegtem Brett das als Platz für das MacBook Pro dient. Gerne halb aufgeklappt ruht es darauf um augenzwinkernd den für sich proklamierten sozialen Status zu kommunizieren und fast rechtfertigend zu behaupten: Es wird an etwas gearbeitet. Die Matratze liegt zu ebener Erde. Man könnte jederzeit wieder weg. Heute noch, wenn es sein soll. Nach Oakland, San Francisco oder Sydney.
Die Geschichten von den anstrengenden Drehtagen glaubt man sich im Allgemeinen gegenseitig, so dass der einzige Ausweg zu sein scheint, immer noch eine Schippe drauf zu legen. Wenn alle Projekte haben, habe ich schon lange eins. Die Rollen sind eingeübt, fast schon glaubwürdig und der Graefekiez soll die Bühne sein.
Man sitzt vor Läden die sich häufig als Manufakturen bezeichnen oder englische Kunstnamen tragen. Die Einrichtung ist stilsicher, das Personal und das Publikum sind es auch. Einzig der Instagram-Filter fehlt – vorerst. Das wird bei der digitalen Präsentation des stets vorzeigbaren Alltags nachgeholt.
Modisch lässt man sich ungern einordnen, würde jedoch „urban“ sicher in Ordnung finden. Bei den Damen hat sich der hat sich der „Künstler-Dutt“ durchgesetzt. Das Haar, demonstrativ beiläufig, nach oben gebunden – man ist schließlich ständig unterwegs. Hoch im Kurs stehen dazu halbdurchlässige Blüschen und Tattoos aller Art. Ein bisschen tough, ein bisschen rough – wie in der Neon. Die männlichen Darsteller bevorzugen so genannte Wife-Beater-Hemden (jene Feinripp-Unterhemden in denen bierbäuchige Männer – soweit das Klischee – einst der Polizei die Tür öffneten nach dem die Nachbarn Schreie vernommen haben) und die exakt gleiche Frisur die hier jedoch (es ist wahr) „Urban Samurai“ genannt wird. Ein bisschen Selbstachtung und Würde gibt man zwar ab – bekommt dafür aber eine Nebenrolle in einem Stück in dem keiner mehr so genau weiß, wer eigentlich wem etwas vorspielt. Ein bisschen Hippie, ein bisschen Hipster und, nun ja, ein bisschen Snob. Was nützt das bisschen Geld, wenn es niemand sieht.
Und man hat gute Ideen – und jede gute Idee passt bekanntlich in ein MacBook, sonst ist sie nichts wert. Die Erhabenheit über die Frage nach der Wirtschaftlichkeit (böses Wort!) wird kurzerhand kultiviert und ergießt sich in demonstrativer Unabhängigkeit – von Kritik, von Märkten und von jedem Vergleich. Die Idee ist mindestens gut – die Welt höchstens nicht bereit. Ein soziales Holodeck das, angetrieben von Glauben und Behauptungen, religiöse Züge annimmt.
Das Berliner Trend-Wahrsage-Magazin „Zitty“ ging bereits 2006 soweit und erfand den Begriff des „urbanen Penners“. Natürlich muss man dazu sagen, dass der Begriff von der damaligen Chefredakteurin Mercedes Bunz (sic!) erfunden wurde, die damit unter anderem sich in Ihrer „Anfangszeit“ meint – bevor sie eben Chefredakteurin der Zitty wurde. So muss damals in Amerika die Legende vom Tellerwäscher entstanden sein. Sobald man oben ist, macht es sich eben gut mal unten gewesen zu sein – oder das zumindest zu behaupten.
Im Graefekiez errechnen die Excel-Tabellen wohl noch eine ganze Weile weiter 1 + 1 = 10. Zurück bleibt die Irritation. Darüber warum die Bäume nicht schneller wachsen. Die haben den Workflow bis heute nicht kapiert.
Kommentar verfassen